Die Qual der Wahl
Hier an der Schule werden zur Zeit drei grundlegende Stile trainiert. Damit ich entscheiden kann, was ich trainieren möchte, habe ich mich heute damit beschäftigt, die verschiedenen Trainings zu besuchen und herauszufinden, was am besten zu mir passen würde. Eine harte Entscheidung, sind die Stile doch alle sehr verschieden.
White Crane Kung Fu.
Dies ist eine interne Art des Kung Fu. Sie hat eine grosse Tradition und stammt hier aus der Gegend, was sie sehr einzigartig macht. Dabei verwendet man viele Faustschläge, einige Würfe und wenige Kicks. Das Spezielle ist ganz klar das sogenannte Conditioning. Im Gegensatz zu anderen Stilen, werden hier ganz intensiv die Knochen gegen Schmerzempfindlichkeit geschult und gestärkt. Das passiert so, dass man zum Beispiel hundert Schläge mit voller Wucht gegen eine Wand praktiziert. Mit einer Technik, dass man sich nicht aufschlägt, sondern sich «nur» die Knochen ein wenig bricht. Wer einmal ein gebrochenes Bein hatte, dem wurde sicher gesagt, dass es nachher besser hält, wie zuvor. Genau darauf basiert dieser Stil. Die erste Attacke überleben und mit vernichtenden Kontern zurückschlagen.
Internal Shaolin Kung Fu.
In der Ruhe liegt die Kraft. Diese Aussage passt am ehesten zu diesem Stil. Mit dem Fokussieren der Energie auf die wesentlichen Punkte, wird in schnellen, präzisen und kräftigen Schlägen und wenigen Tritten der Gegner geschlagen. Das Ganze sieht aus wie auf Schienen, die Körperhaltung und der Laufweg wird millimetergenau eingeübt. Die Kraft wird durch die geometrisch korrekte Haltung der Glieder erzeugt. Man geht dabei eher tief, der Rücken bleibt stehts gerade und der Kopf bewegt sich nicht. Keine ruckartigen Aktionen, alles ruhig und aus einem Guss. So lässt sich das am besten erklären. Das Training ist eher ruhig und man wiederholt vieles stundenlang, bis es einigermassen sitzt. Eine neue Schlagabfolge wird normalerweise alle 30 Tage gelernt (hier ausnahmsweise alle 3). Es ist das Shaolin Kung Fu, ohne das wilde Rumgehüpfe. Auch Waffen werden eingesetzt.
Shaolin Kung Fu.
Schlichtweg der Klassiker unter den Stilen. Traditionsreich wie nur weniges auf der Welt und wegen der vielen Akrobatik sehr schön anzusehen. Er ist physisch der fordernste Stil und viele der Studenten hier gehen nach der Ausbildung zu irgendwelchen Spezialarmeen überall auf der Welt. Der Gegner wird durch Speed und Kreativität, Muskelkraft und das Kennen der tödlichen Punkte angegriffen und eignet sich auch im Kampf gegen mehrere Gegner gleichzeitig. Die berühmtesten Waffen sind der Speer, das Schwert und auch die Peitsche. Normalerweise wird dieser Stil nur in Klöstern unterrichtet. Diese Schule bildet eine Ausnahme, es ist der einzige Ort, wo Westliche diese Kunst erlernen können.
Ich muss mich entscheiden. Es ist hart und ich bin mir nicht sicher, ob es die Richtige ist. Shaolin fällt raus. Ich bin zwar akrobatisch, mir fehlt aber die Power und die Kondition um wirklich was zu Lernen. So schwanke ich lange zwischen White Crane und Internal. Ich habe das Internal gewählt, weil ich mir unter der totalen Körperbeherrschung und dem Tai Chi mehr Ruhe erhoffe und es an jedem Ort der Welt für mich weiter trainieren kann. Das White Crane ist faszinierend, weil das Training intensiver ist und auch mal Körperkontakt passiert. Aber meine Wahl und mein erstes Training morgen, wird Internal Shaolin Kung Fu sein. Dann lassen wir uns mal überraschen.
Mir wird heute zum ersten Mal klar, dass mir ein Kampf auf allen Ebenen bevorsteht. Beim Abendessen sitzen alle in der grossen Halle. So viele wie Platz finden, sitzen um Rundtische, in deren Mitte eine Köchin, eine alte, chinesische Ur-Ur-Urgrossmutter, Reis und etwas Gemüse serviert. Während ich mir noch überlege, wo denn das Fleisch ist, stürzen sich bereits zehn hungrige Chinesen auf das Wenige was da ist … An dieser Stelle ist anzumerken, dass Lukas kein Meister der Stäbchen ist und in der Zeit wo ich es drei- bis viermal fertigbringe, irgendetwas auf diese dünnen, in diesem Moment verfluchten, Holzdinger zu laden, ohne dass es gleich auf der anderen Seite wieder herunterfällt, haben die Jungs bereits die ganze Platte geleert. Weil es keinen Nachschlag gibt, geht Lukas heute sehr hungrig zu Bett. Lachend beobachtet mich mein Zimmernachbar, wie ich mich stundenlang darin übe, mit meinen Stäbchen Papierknäuel aufzuheben. Dazwischen rauche ich die eint oder andere Zigarette, um das Hungergefühl zu überdecken.