In welcher Welt liegt Tokyo?
Die Neonlichter gehen an und schicken ihre Strahlen auf die Strasse. Dort spiegeln sie sich in den Pfützen auf dem Asphalt und zeigen uns, dass es bald Nacht wird. Nur manchmal unterbrochen von einem vorbeifahrenden Auto, das höchst präzise durch die Strassen dieser Mega Metropole fährt und das sich reflektierende Bild kurz trüb macht. Alles ist feucht. Die Regenschirme sind aufgespannt und schützen die bunt gefärbten Haare der Maids, die mit ewigem Lächeln ihre Flyer an den Mann bringen. Menschen in Anoraks ziehen an uns vorbei durch die enge Gasse in der wir stehen, alles ist im Fluss. Wir sind hier, wir sind in Tokyo. Hier wo alles so eng ist, alles so hoch. Die Lampions vor dem Eingang uns signalisieren, dass es hier Essen und Trinken gibt. Dieses bestellen wir am Automaten und kaum hingesetzt, hat es der knorrige Koch bereits an die Theke gebracht. Es gibt Nudelsuppe mit Rind (vermuten wir) mit etwas Gemüse und einem Dings, das aussieht wie ein Hashbrown mit Gemüse. Dieses löst sich langsam in der Suppe auf, also schnell essen. Wir verweilen nicht lange, denn Shinshuku und Shibuya nehmen uns in ihren Bann. Der Regen ist vorbei und noch etwas scheu gehen wir mit dem Wusel, der nun erheblich nachgelassen hat und erkunden die Strassen. Wir sehen meterlange Reihen von Automaten, in denen sich alles befindet, dass man brauchen und nicht brauchen könnte. Selten, sehr selten sehen wir jemanden etwas kaufen. Meistens sind es wir, die Durst haben. Alles, was wir gehört haben, ist wahr. Die Mangamanie, die Spielhallen und Videogamekultur. Überall Otakus, alles gezeichnet, alles eng, alles intensiv, alles eine totale Reizüberflutung - in der wir uns bald wohl fühlen. Wohl dank der Ordnung, der ganzen Wahrheit, die hinter dem Wahnsinn steckt und weil einfach alles so wahnsinnig Kawaii ist. Wir verbringen in den nächsten Tagen Zeit in einem Eulencafe. Dort gibt es viele Eulen, aber keinen Kaffee. Wir hören an einem inszenierten Flohmarkt in einem ruhigen Stadtviertel einer französisch gekleideten Geigenspielerin zu und bewundern Shinto Schreine und Tempel in der ganzen Stadt. Überall ist es voll, aber nie hektisch. Die Japaner stehen auf Inszenierung. Fantasievoll romantische Darstellungen von Britischen, Französischen und Schweizerischen Sujets sind allgegenwärtig - auf Plakaten, in der Mode, in Zeichentrickfilmen.
Hayao Myazaki ist ein grosser Liebhaber von eben diesen Dingen und so ein Ausflug in sein Ghibli Museum ein Ausflug in eine andere Welt. Während der Zug gemächlich in den Vorort tuckert, vergisst man, dass man gestern noch in einer Game-Halle Achterbahn gefahren ist und dabei Zombies erlegte und mit einem 15 Meter grossen Gundam posierte. Man kommt in die Welt, die den Kindern gehört. Dies löst in mir sofort Sehnsucht aus. Ich komme nicht durch diese kleine Tür, nein, nur Kinder kommen da durch. Für mich ist der grosse Durchgang. Einige Kinder wollen auch durch den Grossen und ich spüre, wie ich gerne durch den Kleinen würde. Einfach weil es nicht für mich gemacht ist. Diese und andere Dinge lernst du in der Welt von Studio Ghibli, weit mehr als ein Filmmuseum.
Zurück in Asakusa. So viele Menschen sind auf der Strasse. Wenn eine Bahn zu spät kommt, dann staut sich das blitzschnell und alles was vorher angenehm luftig gewesen war, steht sich auf Händen und Füssen. Sogar auf Fussgängerstreifen herrscht Linksverkehr. Wenn man stehen bleibt, wird man wie das falsche Zahnrädchen aussortiert. Wir verstehen die Abstumpfung in einer solchen Maschinerie der Anonymität. Japaner machen keine Babies mehr, holen sich den kurzen Kick auf der Strasse, denn Beziehungen sind ein zu grosser Aufwand. Auch, weil man schon mit dem Arbeitgeber eine Beziehung pflegt, deren Stolz oft wichtiger als die vergessene Harmonie der eigenen Familie geworden ist. Viele trinken sich diesen Schmerz weg. Die Bars von Tokyo sind meist klein und gemütlich. In so einer sitzen wir, wurden begrüsst in brüchigem Englisch von der Bardame, die etwas aussieht, als gäbe es in Japan gutes Gras. 3 Hunde leben in der Bar und wahrscheinlich einige Stammgäste. Es gibt Snacks und teure Drinks. Die Wände vollgekritzelt und zugepappt mit japanischen Schriftzeichen, Zeitungsartikeln, Souvenirs aus anderen Ländern und den typischen Lampionen. Das Haus ist aus Holz, so wie es in Japan früher noch viel mehr gab. Der Drink ist gut und das Gespräch seicht. Wir erfahren von Verwandten in der Schweiz und dass man hier Pingu liebt. Und wir lieben Tokyo. Wir geniessen eine ruhige Nacht und fühlen uns hier wohl in diesem Moloch, in diesem feuchten warm, dass der März hier bringt. Wir hören ein leises Rauschen vom Fluss, der irgendwo hinter der nächsten Häuserreihe ist, die in tiefblaues Licht getaucht ist. Wo sind wir? In welcher Welt liegt Tokyo? Es funktioniert. Tokyo funktioniert, denken wir und denken an den Mann, der eben sein Kaninchen an der Leine spazieren führte.